User-generated ethics?
Die Studie „Web 2.0 und Medienethik“ (2007) von Professor Sabine Trepte von der Hamburg Media School nähert sich den Ansprüchen der User und den medienethischen Debatten im Netz erstmalig empirisch. Die Studie untersucht, welchen Anspruch User des Web 2.0 an Privatsphäre haben, wie die medienethischen Standards der User des Web 2.0 aussehen und die Frage, ob Blogger medienethische Themen diskutieren.
Die Autoren gehen davon aus, dass die bisherige Medienethik klassischen Medien vorbehalten ist, für die sich beispielsweise der Pressekodex als konsensualer ethischer Maßstab für die mediale Berichterstattung entwickelt hat.
Nun stehen die neuen Kommunikationsformen im Web 2.0 an der Schnittstelle von Individual- und Massenkommunikation, so dass sie deshalb andauernden Aushandlungsprozessen über das Miteinander der User unterliegen. Da das Web 2.0 die Beteiligung der User, beispielsweise durch Weblogs, Wikis, Videocommunities oder Social Networking Sites, ermöglicht, gehören medienethische Diskurse zum Selbstverständnis der User.
Doch wie unterscheiden sich Web 2.0-affine Internetnutzer von Personen, die weniger user-generated-content nutzen, hinsichtlich ihrer Konzepte von Privatsphäre und ihres allgemeinen Wertekanons?
Web 2.0 und Privatsphäre – kein Raum des Exhibitionismus
Ein Großteil der Inhalte privater Blogs stellt Informationen aus dem Privatleben und persönliche Erfahrungen der Autoren dar, die zudem nicht anonym bleiben, sondern Hinweise auf ihre reale Identität geben.
Im Erhebungszeitrum von Anfang Juli bis Mitte August 2007 wurden insgesamt 702 Internetnutzer zu ihrer Web 2.0-Affinität und ihren Vorstellungen von Privatsphäre befragt. Dabei zeigte sich, dass Web 2.0-Produzenten sowohl online als auch offline eine höhere Bereitschaft zur Selbstoffenbarung zeigen als weniger Web 2.0-affine Nutzer. Das Web 2.0 ist jedoch kein Raum des Exhibitionismus. Web 2.0-affine und -nichtaffine Nutzer unterscheiden sich nicht signifikant hinsichtlich ihres psychologischen Bedürfnisses nach Privatsphäre. Web 2.0-Produzenten (aktive Blogger) bewegen sich vielmehr in einem ständigen Spagat zwischen ihrem Bedürfnis nach Mitteilung und ihrem Bedürfnis nach Privatsphäre.
Bemerkenswert ist auch, dass Web 2.0-Rezipienten (nicht: -Produzenten) am ehesten zu Kompromissen in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre bereit sind: Sie nutzen private Informationen anderer Personen, müssen aber selbst keine Risiken tragen.
User-generated content vs. Tageszeitungen – gleicher Qualitätsanspruch
Die Online-Befragung im Rahmen der Studie zeigte zunächst auch, dass journalistische Qualitätskriterien und der Pressekodex für die Bewertung eines Tageszeitungsartikels wichtiger als für die Bewertung eines Blogbeitrags erachtet werden. Vor allem Web 2.0 Abstinenzler erwarten geringere Standards der Veröffentlichungen in Blogs.
Dennoch fällt die Bewertung von Artikeln aus einer Tageszeitung und Blogbeiträgen gleich aus und ist vermutlich an den gleichen ethischen Standards orientiert.
In einem Labor-Experiment mit 120 Hamburger Studierenden wurden die Quelleninformation und die ethische Fragwürdigkeit systematisch manipuliert. Dabei zeigte sich, dass ethisch fragwürdige Inhalte im Web 2.0 ebenso negativ bewertet werden wie in einer Tageszeitung.
User-generated ethics – mehr Verantwortung für die Leser
In einer Untersuchung von 111 Blogeinträgen mit 330 zugehörigen Kommentaren wurde zudem die Fragestellung untersucht, inwiefern Blogger medienethische Themen diskutieren oder gar spezifische, internetbezogene Ethikstandards entwickeln.
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Medienethik in der Blogsphäre eine zentrale Rolle spielt: Medienethische Diskurse gehören zum täglich Brot der User. Oft sind jedoch eigene Erlebnisse Anlass zum Bloggen – abstrakte, rein medienethische Debatten gibt es kaum. Auch die traditionellen Medien sind für Blogger kein Vorbild.
Besonders wichtige Themen sind dabei der Schutz der eigenen Privatsphäre und der anderer Personen, die Kennzeichnung von Werbung/PR und der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit.
Im Vergleich zu traditionellen Medien verweisen Blogger dabei stärker an die Eigenverantwortung aller Beteiligten. So wird auch die in den Untersuchungszeitraum fallende Veröffentlichung des Vorschlags zu einem Bloggerkodex durch Tim O‘Reilly am 31. März 2007 in den untersuchten Beiträgen großenteils abgelehnt. Blogger sehen sich stärker einer Individual- als einer Professionsethik verpflichtet. Darüber hinaus wird das Publikum als gleichberechtigter Partner im Publikationsprozess betrachtet.